1990

Angefangen hat alles mit einer kleinen Anzeige in der Berliner Zeitung im Januar 1990. Mitarbeiter/-innen des westberliner Nachbarschaftsheimes »Mittelhof« wollten sich mit einer Handvoll Kolleg/-innen zu einem ersten deutsch-deutschen Austausch in Sachen Pädagogik treffen.

Andrea Kaschke, Andrea Lietz und Michael Sadowski waren damals Studierende am ostberliner Institut für Lehrerbildung – IFL Berlin und standen kurz vor ihrem Abschluß als Heimerzieher*innen. Sie entdeckten diese Anzeige und beschlossen am Treffen teilzunehmen. Begleitet wurden sie von Andrea Kaschkes damaligem Mann Siegfried Kaschke: »Wir sind dort hingegangen, weil uns klar war, dass es die DDR so nicht mehr geben wird, und dass Studenten, wenn sie zu Ende studieren dürfen  – man wusste ja nicht, wie sich das alles entwickelt – zusehen müssen, wie sie ihre Arbeitsplätze selbst schaffen.«

 

Zu diesem Treffen erschienen soviele Interessierte, dass Arbeitsgruppen gebildet werden mussten. In der AG »Alternativen zur Heimerziehung« lernten die vier Gunter Fleischmann, Geschäftsführer von Jugendwohnen im Kiez e.V. kennen. Man verabredete sich erneut »um zu gucken, was da gemeinsam gehen könnte.«

 

Gunter Fleischmann: »...wir waren ja direkt in Opposition zur traditionellen Heimerziehung und auch nicht in allen Punkten mit dem kapitalistischen Gesellschaftsystem einverstanden, insofern sind wir da mit wenig Dünkel angetreten. Wir waren nicht die klügeren Wessis gegenüber den doofen Ossis oder so... Uns schien es so, dass es bei der Kommunalen Wohnungsbau AG Freiräume gab und man da vielleicht irgendwo ein Projekt in einem der Häuser machen könnte. Insofern war das natürlich für uns auch spannend, also wir hatten ein gegenseitiges Interesse... Es war schon relativ bald klar, dass diese Initiative von vier Leuten und noch einigen anderen einen Verein gründen wollte. Das war auch meine Herangehensweise, also gleiche Augenhöhe, wir wollten nicht imperialistisch vorgehen, im Gegenteil. Es bestand natürlich ein Informations- und Kompetenzgefälle, was die westdeutsche Struktur angeht, das auszugleichen hat eine ziemlich lange Zeit gebraucht. Aber zunächst zur Vereinsgründung.«

 

Siegfried in der 1990iger Jahren und 30 Jahre später als Aufsichtsrat im Juni 2020

 

Siegfried Kaschke: »Im April 1990 haben wir den Verein gegründet. Ich glaube sogar, dass wir der erste Verein im Ostteil der Stadt waren, der Jugendwohngemeinschaften gründen wollte.«...»Die Vereinssatzung haben wir von Jugendwohnen im Kiez e.V. abgeschrieben, nur ein bisschen umformuliert. Dann haben wir überlegt, wie wir heißen wollen: Jugendwohnen im Kiez gibt es im Westen und Neues Wohnen im Kiez dann im Osten. Wir wollten diese Namensnähe haben, um die sich entwickelnde Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen.«... »Dann haben wir uns beworben, Geld aus diesem Fond zu bekommen, der aus den SED-Kassen gespeist worden ist. Und mit einem leer stehenden Haus in Friedrichshain, wo wir ein multifunktionales Wohn- und Beschäftigungsprojekt reinbauen wollten, hatten wir auch Zugang zu diesen ominösen 30 Millionen, die der damalige Bausenator Nagel großzügigerweise nach Ostberlin geben wollte... Von diesem Geld hätten wir 1,3 Millionen für unser Projekt haben können, aber der Hausbesitzer wollte mehr Geld und das Haus für 1,7 Millionen verkaufen. Damit war das geplatzt.«

 

Friedrichshain 1990, Markgraffendamm am Ostkreuz

Foto Robert Conrad

 

Stattdessen baute Neues Wohnen im Kiez die beiden ersten Jugendwohngemeinschaften auf. Schon allein die Anmietung der Wohnungen war für den Verein schwierig und grünes Licht für die Finanzierung der Projekte zu bekommen erst recht. Mittlerweile war es Oktober 1990, die Währungsunion lief und Ostberlin war der Verwaltung Wesberlins unterstellt. Der Senatsverwaltung für Jugend und Familie schien es jedenfalls unvorstellbar, einem neu gegründeten Ost-Träger Westgeld anzuvertrauen. Gunter Fleischmann: »Sie hatten die Befürchtung, dass das Geld da irgendwo in dunklen Kanälen verschwindet und sie darauf keine Zugriff mehr haben würden. Wir haben alles Engagement und alles Gewicht da reingelegt und an die Moral appelliert und an die deutsche Brüderlichkeit und was weiß ich alles. Irgendwann haben sie dann gesagt: okay, gut, wir probieren es mal.«

 

Alle Zitate sind Auszüge aus einem Gespräch im Workshop »Ossis begegnen Wessis« erschienen im Rundbrief 1 /2010 Was zusammen gehört... Jahrestagung 2009, Herausgeber: Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.